(aus Heft 1/2013)
„Autoren: Dr. Axel Bauer ist Leiter des Hochschulsports der Universität Göttingen und Fachleiter Wassersport am
Institut für Sportwissenschaften. Seine leistungssportliche Kanulaufbahn begann mit dem Kanu-Rennsport (mehrfacher
Norddeutscher Meister) und lag bis vor einigen Jahren im Kanu-Polo. Er organisiert im Rahmen des Hochschulsports
und der Sportlehrerausbildung ca. 30 Kanukurse pro Semester und war 10 Jahre lang Ressortleiter Ausbildung im
Deutschen Kanu-Verband.
(abauer@sport.uni-goettingen)
Sigrun Schulte arbeitet als Leiterin des Hochschulsports der Universität Leipzig. Im Allgemeinen Deutschen
Hochschulsportverband ist sie als Disziplinchefin Kanu für alle Fragen, die den Kanusport betreffen, zuständig. Als
Referentin für Ausbildung im Deutschen Kanuverband rief sie die B-Trainer Ausbildung für Kanu-Polo bundesweit ins
Leben. Als Mitglied des A-Kaders der Deutschen Nationalmannschaft nahm sie an Welt- und Europameisterschaften teil.
(sigrun.schulte@uni-leipzig.de)
Kanu-Wildwasserfahren in der Schule?
Denkt man an Kanufahren in der Schule, liegt es zunächst nahe, umliegende oder entferntere Gewässer für gemütliche
Wandertouren im Boot zu nutzen. Darüber gibt es vielfältige Erfahrungen und ganz unterschiedliche Sinnperspektiven,
die mit einer solchen Fahrt als Wandertag, Projektwoche, Klassenabschlussfahrt und anderen außerunterrichtlichen
Veranstaltungen verknüpft sein können.
Aber Wildwasserfahren in der Schule? „Ist das nicht viel zu gefährlich?“ – werden sich Lehrer und Eltern fragen.
Seit 32 Jahren finden am Sportzentrum der Universität Göttingen mehr als 15 Wildwasserkurse jährlich statt, in denen
Sportstudierende und damit künftige Lehrerinnen und Lehrer erste Erfahrungen mit dieser Sportart sammeln. Drei
Göttinger Schulen bieten regelmäßig seit vielen Jahren Wildwasserkurse an, in Niedersachsen treten vielfach Schulen
an uns heran, die qualifizierte Studierende zur Unterstützung ihrer Wildwasserkurse als unterrichtliche oder
außerunterrichtliche Veranstaltung benötigen.
Wildwasserfahren ist bei qualifizierter Betreuung keine Risikosportart. Eine Reihe von Untersuchungen auch bei
unseren eigenen Studierenden belegen, dass das Risiko eine ernsthafte (ärztlich zu versorgende) Verletzung zu
erleiden bei alpinen Skikursen um das 5-fache, bei den Spielsportarten um das bis zu 30-fache höher ist als beim
Kanu-Wildwasserfahren.
Anliegen
Wir wollen mit dem folgenden Beitrag aufzeigen, wie ein Wildwasserkurs inhaltlich gestaltet und entsprechend
organisiert werden kann. Am meisten Erfahrungen liegen uns mit Oberstufenkursen vor, mit einigen Änderungen ist ein
solcher Kurs aber auch ab 7. oder 8. Klasse realisierbar.
Übergeordnete Zielsetzungen und Sinnperspektiven
Unabhängig davon, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten fächerübergreifenden Unterrichts (mit Biologie, Geographie)
gibt, liegen gerade auch bei außerunterrichtlichen Veranstaltungen die besonderen pädagogischen Möglichkeiten einer
Wildwasserwoche über das reine sportliche Tun hinaus auf der Hand:
• Wildwasserfahren ist Natursport. Schüler erfahren Naturräume hautnah und ganz unmittelbar in der praktischen
Aneignung wie vielleicht sonst nur beim Klettern, Tourenskilauf oder Bergsteigen.
• Wildwasserfahren ist eine Sportart, in der wenige Schüler an motorischen Vorerfahrungen anknüpfen können. Alle
lernen gemeinsam in nahezu homogenen Lerngruppen, selten ragt jemand aus der Gruppe heraus.
• Diese Sportart erfordert und ermöglicht besonders intensive Erlebnisse. Hier geht es um Erlebnissport/Erlebnispädagogik
mit hoher Intensität. Man ist voll und ganz in der Situation gefangen, für gedankliche Freiräume und Ablenkungen
ist über längere Phasen kein Platz, man hat „Flow“-Erlebnisse.
• Wildwasserfahren ist immer ein Gruppenereignis. Es wird schnell offensichtlich, dass man aufeinander angewiesen
ist, sich gegenseitig helfen kann und muss, sei es beim Kommunizieren über Befahrungsrouten, beim Sichern, nach
einer Kenterung oder auch nur beim Tragen der Boote.
• Die Kurse finden als Selbstversorgerkurse statt. Die Gruppenprozesse, die beim gemeinsamen Einkaufen, Kochen,
Aufräumen stattfinden, sind pädagogisch wertvoller als das Klagen über die schlechte Küche der Sammelunterkunft.
• Die Regionen, die sich fürs Wildwasserfahren anbieten, sind häufig geeignet, Elemente des „Sanften Tourismus“ zu
verwirklichen. Das Nachdenken und entsprechende Handeln zur Förderung eines nachhaltigen Tourismus und entsprechende
soziokulturelle Auswirkungen können nicht nur in der Oberstufe thematisiert werden und ergeben sich aus dem täglichen
Leben vor Ort. Einkaufen regionaler Produkte, statt Aldi-Müll vor Ort zu verteilen, muss Leitlinie des Handelns sein.
Organisatorische Rahmenbedingungen
Nun hören sich die pädagogischen Ansprüche toll an, aber wie soll man die Umsetzung realisieren. Wir beschreiben im
Folgenden ein Modell, wie diese Kurse im Göttinger Umfeld praktiziert werden. Dabei sind zumindest für den
norddeutschen Bereich diese Rahmenbedingungen mit unserer Unterstützung realisierbar. In anderen Regionen gibt es
entsprechend andere Modelle, in NRW z.B. so genannte „Mobile Kanueineinheiten“, die über den Deutschen Kanu-Verband
in Duisburg abgerufen werden können.
Das Equipment: Komplette Kanuausrüstungen (Boot, Paddel, Spritzdecke, Schwimmweste, Helm, Neoprenanzug) verleiht das
Sportzentrum der Universität Göttingen kostenpflichtig. Eine Reihe von Schulen, andere Universitäten und vielleicht
auch örtliche Kanu-Vereine haben inzwischen eigene Ausrüstungen und sind unter Umständen erfreut, die Ausrüstungen
zur Aufbesserung ihres Etats gegen entsprechende Gebühr zu vermieten.
Der Transport: Viele öffentliche Einrichtungen oder kleine Auto-Vermietungen haben Kleinbusse, die vermietet werden.
Auch entsprechende Anhänger stehen meist zur Verfügung.
Zu möglichen Orten des Geschehens: Es gibt eine große Vielfalt an potentiell möglichen Regionen, in denen
ein Wildwasserkurs prinzipiell möglich ist. Das Gewässerführersystem des Deutschen Kanu-Verbandes stellt flächendeckend
Flussführer zu Verfügung.
Zur langfristigen Planung einer solchen Fahrt ist es allerdings notwendig, verlässliche Wasserstände zu haben. In
der Praxis haben sich zwei Orte als besonders geeignet erwiesen: Das Flusssystem der Soca in Slowenien und vor allem
der Steierische Salza.
Inhaltliche Gestaltung
Wildwasserfahren gehört zu den Sportarten, deren Techniken relativ leicht und schnell zu erlernen sind. Handlungsfähigkeit
im Wildwasser ist aber mehr als der Einsatz von Grundtechniken. Es ist ein gleichzeitiges oder in kurzer Zeitabfolge
notwendiges Bewältigen von Mehrfachaufgaben: Die Aufnahme und Verarbeitung von relevanten Informationen, das Lesen
von Strömungen und deren frühzeitige Beurteilung hinsichtlich der Wirkungen auf Boot und Fahrer und der daraus
resultierenden notwendigen technisch-taktischen Maßnahmen, ein ausgeprägtes kinästhetisches Empfinden für gezielt
auf die Kräfte des Wassers abgestimmte Bewegungsabläufe sind Voraussetzungen für das Wildwasserfahren auf jedem
Niveau. Das technische Repertoire allein ist demzufolge eine notwendige, aber längst keine hinreichende Voraussetzung
für gutes Wildwasserfahren.
Der hier vorgestellte Ansatz orientiert sich deshalb an gewünschten, sinnvollen Handlungen im Wildwasser. Das Erlernen
von Techniken ist dazu notwendig. Häufig sind im Lehr-Lernprozess des Wildwasserfahrens aber andere Ziele für den
Lernenden dominant. Hinweise zur technischen Ausführung einer Bewegung können nur sehr gezielt eingesetzt werden.
Abgesehen davon sollte sich der Lehrende bewusst sein, dass bei fortgeschrittenen Fahrern automatisierte Bewegungsabläufe
in der praktischen Anwendung immer wieder situativ variiert werden, so dass es auch hier nicht zu einem technischen
Stereotyp bzw. Bewegungsleitbild kommen kann.
Anfänger müssen deshalb biomechanische Grundstrukturen der Wirkung ihrer Techniken durchschauen, Bewegungskorrekturen
sind nur sehr dosiert und in angemessenen Situationen sinnvoll.
Die hier dargestellte Einführung ins Kanuwildwasserfahren basiert demzufolge nicht auf einer methodischen Aneinanderreihung
kanusportlicher Techniken, sondern auf sinnvoll aufeinander aufbauenden Handlungszielen.
Auf dieser Grundlage können bei entsprechenden situativen Voraussetzungen (siehe unten), Kanuanfänger ohne Vorerfahrungen
direkt im Wildwasser beginnen.
Wahl des Übungsgeländes
Grundlage für den Erfolg einer Kanu-Einführung im Wildwasser ist die Auswahl eines geeigneten Wildwasser-Übungsgeländes.
Ideal ist eine übersichtliche Strecke, die einen deutlich erkennbaren Hauptstromzug und auf jeder Seite ein
ausgeprägtes, großes Kehrwasser hat. Das Wasser (Stromzug und Kehrwasser) muss so tief sein, dass man problemlos
darin schwimmen kann. Wichtig ist es, dass sich ein längeres, ruhiges Stück an die eigentliche Übungsstrecke
anschließt, in dem man auch ohne Anstrengung wieder zum Ufer fahren kann und Schwimmer problemlos herausschwimmen
können. Der Fluss sollte insgesamt nicht zu breit sein, um überschaubare und zu bewältigende Ziele zu haben. Flache
Ufer sind „bergungsfreundlich“, man kann das Boot leichter aus dem Wasser ziehen und entleeren. Sonnenschein und
klares Wasser würden einen sehr angenehmen Rahmen abgeben.
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